Pessach 2019

Information Kultur Veranstaltung
Liebe Freundinnen und Freunde des Instituts Kirche und Judentum, das Leo Baeck Institute in New York, ein Archiv zur Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums beherbergt in seinen Sammlungen unter der schlichten Signatur „Leo Baeck Institute Art and Objects Collection, 95.20“ ein Etui mit einer Brille, die ein wenig an schicke Entwürfe etwas exaltierter Manufakturen erinnert. Wenn man auf dem Flughafen Tel Aviv steht, wird dort seit einigen Jahren für eine Berliner Brillenfirma geworben, deren Namen ich erst durch die israelische Werbung kennenlernte. Auf den ersten Blick könnte der Entwurf für die Brille aus einer hippen Designagentur stammen, die neben der Funktion auch noch andere Interessen mit dem Entwurf verband. Die vorzügliche Internetdokumentation des Museums spricht von „Eyeglasses“ und unwillkürlich dachte ich zuerst an eine Lesebrille. Aber wer trägt schon und trug auch früher derartige Ungetüme?   Die Brille stammt gar nicht aus unseren Tagen, sie gehörte vielmehr Moses Mendelssohn. Und sie diente ihm tatsächlich gar nicht zuerst als Lesebrille, sondern als Staubschutz – bekanntlich verdiente der Berliner Religionsphilosoph, den Friedrich der Große nicht in seiner Akademie der Wissenschaften sehen wollte, sein Auskommen zeitweilig als Buchhalter einer Seidenspinnerei, bevor er deren Mitinhaber und Geschäftsführer wurde. Da kam es auf klare Sicht in jeder Beziehung an. Manche werden sich vielleicht erinnern, dass die Brille zur Eröffnung des Jüdischen Museums ausgestellt war. Allerdings haben manche Zeitungen, die seinerzeit die Eröffnungsausstellung des Jüdischen Museums in Berlin beschrieben, auch einfach von einer Lesebrille gesprochen, Philosophen tragen eben doch eher Lesebrillen als Staubschutzbrillen. Natürlich geht es, wenn von Lessings Gesprächspartner die Rede ist, nicht nur darum, dass man – wie eine Figur von Thomas Bernhard einmal sagt – Lesebrillen auch als Philosoph zu profanen Zwecken braucht: „Jetzt brauche ich auch zum Nägelschneiden / die Lesebrille / Durch dieselbe Brille durch welche ich Voltaire lese / sehe ich meine Zehennägel“ (aus: „Der Schein trügt“). Sondern die Brille macht (jedenfalls für die, die sie zu deuten verstehen) erkennbar, unter welchen sehr besondere Umständen Mendelssohn sein Leben als Jude in Berlin führte.   Ich denke, wenn ich die Brille von Mendelssohn sehe, aber auch daran, dass es eine Lesebrille mit Staubschutz braucht, wenn man im Getümmel der Berliner Innenstadt die Spuren seines Lebens auffinden will – denn mitten im Getümmel liegen sein erstes Berliner Domizil an der Nikolaikirche und sein späteres Wohnhaus an der Marienkirche, dessen einstiger Platz heute inmitten einer Grünanlage durch ein eindrückliches Denkmal des israelischen Künstlers Micha Ullman markiert wird. Von diesem Denkmal im Pflaster gilt wie für viele Denkmäler des Bildhauers: Man kann sie leicht übersehen. Das Institut Kirche und Judentum will dabei mithelfen, dass Spuren jüdischer Geschichte nicht vergessen werden und beteiligt sich finanziell an einer entsprechenden Ringvorlesung an der Humboldt-Universität. Diese Ringvorlesung hat der Historiker Michael Wildt anlässlich des siebzigsten Geburtstages unseres Kuratoriumsmitgliedes Hermann Simon organisiert – das ganze Institut ruft dem Jubilar ein fröhliches Mazel tov zu und wünscht ihm noch viele Jahre dieser heiteren Nüchternheit (oder besser vielleicht: nüchternen Heiterkeit), die ihn seit so vielen Jahren auszeichnet. Das Programm der Ringvorlesung findet sich auf einem Flyer, den man auch über das Internet lesen kann:   https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/dokumente/lehre/190320_Einladung_Korr.pdf/   Dieser Newsletter erscheint zu Pesach 2019, das in diesem Jahr wieder einmal mit dem christlichen Osterfest zusammenfällt und uns daran erinnert, dass Christenmenschen sich mit jedem Abendmahl an ein sehr besonderes Pesachmahl in Jerusalem erinnern. Natürlich geht es im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs nicht nur darum, dass die Kirchen sich an ihre Wurzeln erinnern und dann gar noch irgendwelche christlichen Adaptionen von Pesach-Feiern in ihren Gemeindehäusern veranstalten. Nein, mitten in Berlin werden in den nächsten Tagen Sederabende gefeiert, die jeden, der das einmal erleben durfte, als lebendiges Zeichen jüdischen Lebens tief beeindrucken. Von daher nicht nur auf die Anfänge des Christentums, sondern auch auf seine Gegenwart zu schauen und dies gemeinsam mit jüdischen Gesprächspartnern zu tun, ist die großartige Chance einer Stadt wie Berlin und ihres lebendigen jüdischen Lebens. Ein Leben, das angesichts zunehmender antisemitischer Angriffe wieder bedroht ist und energisches Eintreten aller verlangt. Von all‘ dem, was hier angedeutet wurde, ist im Newsletter ausführlicher die Rede, denn er beschreibt die Arbeit des Instituts, seine Veranstaltungen und Angebote, Veröffentlichungen und Serviceleistungen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind herzlich eingeladen, nicht nur diesen Newsletter zu lesen, sondern von den Angeboten Gebrauch zu machen. Wir forschen für Sie!   Nun aber wünsche ich namens des ganzen Instituts gesegnete Ostertage und ein fröhliches Pesach, Hag Pesach Sameach – Ihr Christoph Markschies, Institutsleiter.
 
 
 
Haggada 1943 – Gedanken zum 19. April von Daniel Krochmalnik
 
 
 
  Haggada 1943   Dieses Jahr fällt der Beginn des Pessach – Festes auf den 19. April, so wie im Jahr 1943. Damals geschahen an diesem Tag an weit entfernten Orten vier Ereignisse, die in einer Haggada zusammengefasst zu werden verdienen, eine Haggada 1943.   Warschauer Ghetto   Um 6.00 Uhr morgens rückten an diesem Tag die Deutschen und ihre ukrainischen Helfershelfer ins Warschauer Ghetto ein, um die letzten 70 000 Juden in das Todeslager zu verschleppen. Wie üblich war die „Aktion“ auf einen jüdischen Feiertag gelegt worden, eben auf den Vortag von Pessach. Trotz der schrecklichen Hungersnot hatte man für diesen Tag einige Mazzen gebacken und Wein für das Fest aufgetrieben.  Und man hatte sich auf die bevorstehende „Aktion“ vorbereitet. Unter der Führung des Zionisten Mordechai Anielewicz leisteten die Juden dieses Mal Widerstand. Die Deutschen mussten sich unter Verlusten aus dem Ghetto zurückziehen. Die Juden konnten am Abend Pessach, oder, wie der Feiertag auch noch heißt: „Zeit der Freiheit“ (S‘man Cherutenu) feiern. Auf der christlichen, oder wie man damals sagte, „arischen“ Seite, genossen die Polen den Frühling, der Aufstand nebenan ging sie nichts an – noch nicht. Vor der Ghettomauer drehte sich ein Riesenrad. Der polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz dichtete im Untergrund: „Der Wind von den brennenden Häusern/ Blies in die Kleider der Mädchen,/ Die fröhliche Menge lachte/ Am schönen Warschauer Sonntag“ (Campo di Fiori, 1943).    Weiße Rose   Um 9.00 Uhr desselben Tages fand im Kleinen Sitzungssaal Nr. 216 des Münchner Justizpalastes der Prozess gegen den Philosophieprofessor Kurt Huber und die Medizinstudenten Alexander Schmorell und Wilhelm Graf statt. Zwei Monate zuvor waren Hans und Sophie Scholl beim Verteilen eines regimekritischen Flugblattes Hubers im Lichthof der Münchner Universität erwischt worden. Das Flugblatt endete mit den Worten: „Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.“ In früheren Flugblättern hatten die Studenten der Weißen Rose offen den Völkermord an den polnischen Juden angeprangert. Wie Sokrates vor den Richtern von Athen stand nun ihr geistiger Mentor vor den Blutrichtern des Volksgerichtshofes. Nach dem Todesurteil hatte Huber noch einmal das Wort. Unter dem Gebrüll des Richters sprach er: „Ich fordere die Freiheit für unser deutsches Volk zurück. Wir wollen nicht in Sklavenketten unser kurzes Leben dahin fristen.“ Eine deutsche Haggada.     Bermuda-Konferenz   Am gleichen Tag eröffneten die Briten und Amerikaner auf den Bermudas eine Konferenz zur Lösung der Flüchtlingsfrage. Die Alliierten waren über den Völkermord informiert, die Proteste mehrten sich, es musste etwas unternommen werden, wenigstens zum Schein. Der Tagungsort war so gewählt, die Tagesordnung so formuliert, die Teilnehmer so bestimmt, die Vertreter der Opfer und der Presse so beschränkt, dass ein greifbarer Erfolg der Konferenz von vornherein ausgeschlossen war. Denn man wollte auf keinen Fall weitere jüdische Flüchtlinge aus Europa aufnehmen, nicht einmal Kinder. Man kann die Konferenz getrost zu den Belegen für das sprichwörtliche Bermuda-Dreieck rechnen. Der amerikanische Politiker Myron C. Taylor erklärte später: „Die Bermuda Konferenz war völlig erfolglos (…) und wir wussten das bereits vorher.“ Während die Propaganda der Nazis die „Angloamerikaner“ als „Judensöldlinge“ hinstellte, ließen die Engländer und Amerikaner die Rettung der Juden bewusst im Sand verlaufen. Die Bermuda-Konferenz, das war die schwache Antwort des Westens auf die Wannsee-Konferenz. Einen großen Exodus sollte es diesmal nicht geben, die Mörder konnten bis zum Schluss nahezu ungestört weiter morden.   20. Belgische Judentransport   Um 22 Uhr dieses Tages ging vom belgischen Mechelen der 20. belgische Juden-Transport nach Auschwitz ab. Unter den 1631 Menschen im Alter von sechs Wochen bis 90 Jahren war auch die Krankenschwester und Widerstandskämpferin Régine Krochmal. Nach der Abfahrt des Zuges zerbrach sie das Holzgitter vor der Luke des Viehwaggons und ließ sich in die Böschung neben dem Bahndamm fallen. Genau in diesem Moment überfielen ein paar verwegene Widerstandskämpfer den Zug, öffneten Waggons und retteten einige Opfer vor dem sicheren Tod. Marion Schreiber hat in ihrem von Paul Spiegel eingeleiteten Buch Stille Rebellen diese einmalige Widerstandsaktion beschrieben. Im Durcheinander gelang auch Régine Krochmal die Flucht. Welches Schicksal sie in Auschwitz erwartet hätte, sagt uns das Kalendarium des Konzentrationslagers. Von den 631 erwachsenen Frauen dieses Transports, die am 22. April ankamen, wurden 386 sofort vergast, von den 245 übrigen Frauen wurden 112 zwecks Menschenversuche in den berüchtigten Block 20 des Stammlagers überstellt.  Régine Krochmal meinte einmal: „ich glaube nicht an Zufälle“ und sucht in der „Magie dieses Tages“ eine Erklärung für die Koinzidenz des einmaligen Überfalls auf den Deportationszug und ihrer Rettung.    Der Ghettoaufstand, die Weiße Rose, die Bermuda-Konferenz und die Flucht von Regine Krochmal am 19. April 1943 bilden zusammen eine moderne Haggada über Aufstand und Widerstand, über einen gescheiterten Exodus und eine ganz kleine Rettung.   Daniel Krochmalnik ist Professor für Jüdische Religion und Philosophie an der Universität Potsdam. Zuvor hatte er die Professur für Jüdische Religionslehre, – pädagogik und -didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg inne. Seit 2002 ist er Mitherausgeber der Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn.   
 
 
 
Wolloch-Haggada zum Gedenken an den Holocaust Die vom IKJ herausgegebene „Wolloch-Haggada zum Gedenken an den Holocaust“ ist im IKJ Büro erwerbbar.
 
 
 
Dmitrij Belkin liest aus „Germanija – Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“ zum Auftakt unserer Lesereihe „besserlesen als besserwissen“  von Kerstin Hohlfeld
 
 
 
Mehr als 30 Gäste waren der Einladung von Ingrid Ossig, Gründerin der Eberhard-Ossig-Stiftung, Mitte Februar in die Berliner Markgrafenstraße zur Auftaktlesung der gemeinsam mit dem Institut Kirche und Judentum organisierten Reihe „Besser lesen als besserwissen“ gefolgt. Dr. Dmitirij Belkin sprach bei der Vorstellung seines Buches Germanija – Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde über seine Beobachtungen als sogenannter „Kontingentflüchtlicng“ der deutschen Kultur, seinen Karriereweg als Wissenschaftler und das Bekenntnis zum Judentum im Land des Holocaust.   Launig, sympathisch, aber auch nachdenklich berichtete Belkin – musikalisch umrahmt von Interpretationen der Dresdner Gitarristin Elke Jahn  – wie er seine Reise als damals 22-Jähriger von Dnepropetrowsk nach Deutschland erlebte – als einer der zwischen 1990 und 2012 gut 200.000 eingeladenen, atheistisch sozialisierten Juden, die mit ihren Nachkommen heute 95% der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland stellen. Das Drängen seiner Eltern, die Chance zu ergreifen und nach Deutschland zu reisen, aber auch die Nazi-Ängste seiner Großmutter. Die Fahrt durch das adventliche, von Leuchtern und Weihnachtsmärkten illuminierte Deutschland ließ Belkin vermuten, eine große jüdische Gemeinschaft feiere hier das Chanukkafest. Nach einer Zeit im Auffanglager in Karlsruhe und Zwischenstation in Reutlingen begann Belkin in Tübingen zusammen mit seiner nachgereisten Frau Ljuda ein neues Leben, nahm dort sein Geschichtsstudium auf und begab sich auf die Suche nach einer religiösen Identität.   Belkin schilderte – nie ohne Selbstironie und Humor – wie er inmitten der Widersprüche zwischen Ost und West, altem und neuem Leben, in jüdischen und christlichen Kreisen die wissenschaftliche Diskussion suchend, einen Zugang und Weg zur jüdischen Religion fand.   Nach der Promotion im Jahr 2000 kam sein Sohn Mark zur Welt. Die Belkins wurden Deutsche, wählten wegen Mark den jüdischen Glauben und zunächst Frankfurt als neue Wahlheimat. Heute lebt Belkin in Berlin, wohin er wegen einer Stelle am Ernst-Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) wechselte und dort jüdische Promovierende aus aller Herren Länder betreut.   Dem interessierten Publikum dürfte im Nachgang dieses ebenso spannenden wie unterhaltsamen Abends neben Belkins sympathisch intellektueller Persönlichkeit und der herzlichen Aufmerksamkeit des Gastgeberpaares diese wechselvolle von Identitätssuche geprägte Lebensgeschichte im Gedächtnis bleiben.
 
 
 
Rabbi meets Priest – Rolle und Selbstverständnisse von Pfarrer*innen und Rabbiner*innen im Vergleich von Julie Lucie Mauermann, Studentische Teilnehmerin
 
 
 
Vom 26.2. bis zum 28.2.2019 versammelten sich Studierende der School of Jewish Theology Potsdam sowie Studierende der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zur gemeinsamen Blockübung „Rabbi meets Priest“. Unter Leitung von Dr. Christian Stäblein (damals Probst, nun Bischof EKBO), Prof. und Rabbiner Walter Homolka (Direktor der School of Jewish Theology) und Aline Seel (Pfarrerin am Institut Kirche und Judentum) war das Ziel, sich mit der Rolle und dem Selbstverständnis von Rabbiner*innen und Pfarrer*innen auseinanderzusetzen und dabei stets den Perspektivwechsel und den Vergleich zu wagen. Prof. Christoph Markschies sprach als Dekan der Theologischen Fakultät und Leiter des Instituts Kirche und Judentum ein Grußwort und brachte seinen Dank und seine Freude über diese besondere Kooperation zum Ausdruck.   Besonders spannend und aufschlussreich für die Studierenden der Theologischen Fakultät war der Ausbildungsweg der zukünftigen Rabbiner*innen. Evangelische Theologie können wir studieren ohne einen bestimmten Numerus Clausus oder andere speziellen Voraussetzungen – und erst später entscheiden wir uns, ob wir Pfarrer*in werden möchten. Angehende Rabbiner*innen hingegen stehen vor ganz anderen Herausforderungen! Für die Aufnahme sind bestimmte Qualifikationen vorausgesetzt. Hierzu gehören neben der schriftlichen Bewerbung, bestehend aus drei Essays und sechs Empfehlungsschreiben auch ein Interviewtag, ein psychologisches Gespräch und das Abfragen von Hebräischkenntnissen. Wurde dieser Teil erfolgreich gemeistert, folgt ein Studiumsvertrag und die Ausbildung kann beginnen. Bereits am Anfang gilt es dabei, Praktika in jüdischen Gemeinden zu absolvieren, welche kontinuierlich in der ganzen Bundesrepublik fortgeführt werden. So kommt es, dass werdende Rabbiner*innen bereits während ihres Studiums zu Ansprechpartner*innen der jeweiligen Gemeinden werden und teilweise sogar während der Tage unserer Blockübung Anliegen von Gemeindemitgliedern nachgegangen sind.   Sowohl im Pfarramt als auch im Rabbinat wird man täglich vor Herausforderungen gestellt. Neu waren für uns christliche Studierende etwa die Herausforderungen, vor denen jüdische Gemeinden angesichts der Emigration sowjetischer Jüdinnen und Juden seit 1989/90 stehen. Durch sie ist die jüdische Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich angewachsen. Das Gemeindeleben konnte so aufblühen, aber es stellten sich auch neue Herausforderungen etwa im Finden einer gemeinsamen Sprache.   Verbunden hat uns die Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel, der jüdische und evangelische Gemeinden bewegt und beeinflusst. Einer wachsenden Gruppe älterer Menschen steht eine nur geringe Zahl an Nachwuchs gegenüber.  So sind vor allem Pfarrer*innen und Rabbiner *innen in ländlicheren Regionen gefragt, mehrere Gemeinden zugleich zu betreuen – hier können wir viel voneinander lernen!   Wir stellten fest, dass wir in beiden Religionen die Gruppen kennen, die sich wünschen, dass alles so bleibt wie in den letzten Jahrzehnten. Auf der anderen Seite gibt es die, die sich nach frischem Wind sehen. Wie also beiden zugleich gerecht werden? Uns verbindet die Frage nach einer Strategie, mit der neue Gemeindeglieder gewonnen werden können ohne die zu verlieren, die bereits da sind. Somit stehen Rabbiner*innen und Pfarrer*innen stets in der Spannung zwischen Veränderung und Kontinuität.   Als weiteres Thema beschäftigte uns die Wahrnehmung, dass es in vielen Köpfen noch immer das Bild gibt von einem Rabbiner / Pfarrer, an dessen Seite eine Frau steht, welche die Gemeinde tatkräftig unterstützt und sich um die Kinder kümmert. Doch dieses Bild entspricht kaum noch der Realität. In beiden Religionen gibt es vielfältige Lebensentwürfe und Familienrealitäten.  Wie also neue Bilder entwickeln? Wichtig war uns zu fragen, wie sich Erwartungen an geistliche Ämter je nach Geschlecht unterscheiden. Wird etwa von einer Rabbinerin erwartet, dass sie andere Aufgaben übernimmt als ihr männlicher Kollege? Und welche Erwartungen haben eigentlich wir selber?   Weitere wichtige Themen waren für uns etwa das Verhältnis von Privatleben und Beruf und die Frage nach Berufung und geistlichem Amt.    Kluften zwischen den Religionen nahmen wir etwa da wahr, wo wir Texte des jüdisch-christlichen Gespräches studierten, die auf uns wirkten, als seien sie ohne Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers entstanden. Als hätte man sich nicht einmal die Mühe gemacht, auch die andere Seite zu hören und mit einzubeziehen. Können Texte über einen Dialog ohne den Dialog selber auskommen?   Uns ist aufgefallen, wie sehr schon einzelne Worte verletzen können. Jüdische Teilnehmende waren etwa erschrocken, wenn christliche das Wort „Altes Testament“ verwendeten. Der Begriff „Hebräische Bibel“ erschien ihnen angemessener, sie seien schließlich „nicht alt“!   Hier wurde erfahrbar, wie wichtig es ist, andere Perspektiven kennenzulernen, um die eigenen zu erweitern!   Die Übung hat uns gezeigt, dass gerade schwierige Themen einen beständigen Dialog brauchen. Es war wichtig, Trennendes und Verbindendes gleichermaßen wahrzunehmen und uns als Gruppe und je einzelne Menschen dabei gut im Blick zu behalten.   Am Ende der Übung waren Begeisterung und Dank auf allen Seiten groß. Innerhalb von ein paar Tagen ist es uns gelungen, eine sehr angenehme und offene Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der man sich wohlfühlen konnte. Es gab Raum für Fragen und  Diskussionen. Wir haben viel voneinander gelernt!  Und wir hoffen, dass wir gemeinsam weitergehen können – auf die eine oder andere Art:  gemeinsame Veranstaltungen, ein Stammtisch oder weiter Seminare zu bestimmten Themen? In den kommenden Monaten wird sich eine kleine Gruppe hierzu weitere Gedanken machen – ein Ende soll jedenfalls nicht in Sicht sein!
 
 
 
Termine 9. Mai   Lerntag des landeskirchlichen Arbeitskreises Christen und Juden. Begegnungen mit Abraham und Sara: Vertrautes – Fremdes – Neues   Für mehr Information:   https://akd-ekbo.de/kalender/lerntag-des-landeskirchlichen-arbeitskreises-christen-und-juden-begegnungen-mit-abraham-und-sara-vertrautes-fremdes-neues/  
 
 
 
9. Mai Lesung von Juna Grossman   Anlässlich der Lesereihe: „besserlesen als besserwissen“ liest Juna Grossmann aus ihrem Buch „Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus“.   https://www.ikj-berlin.de/ikj/termine.html   19 Uhr, Markgrafenstraße 88, 10969 Berlin
 
 
 
19.-23. Juni Kirchentag   Das IKJ ist in diesem Jahr beim Kirchentag mit einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten vertreten. Dort bieten wir auch im Rahmen der Kampagne Christ*innen gegen Antisemitismus die Möglichkeit an, mit einem Selfie ein Zeichen zu setzen, welches wir vor Ort als Postkarte ausdrucken.   Außerdem bieten wir mit unseren Szenen Christlich-Jüdischer Gespräche einen Einblick in historische Begegnungen zwischen Juden und Christen.   Am 20.06.19 von 15.00 -17.30 Uhr zu Johannes Chrysostomos im Rahmen der Veranstaltung Alles auf Anfang. Weitere Informationen finden sie unter: https://www.kirchentag.de/programm/programmsuche/#session/370195101/V.JUC-001   Und am 21.06.19 von 16:30-18.00 Uhr mit dem Titel Szenen einer Ehe. Weitere Informationen finden Sie unter: https://www.kirchentag.de/programm/programmsuche/#session/370522101/V.JUC-029   Weitere Informationen bezüglich des Kirchentags finden Sie unter https://www.kirchentag.de/
 
 
 
15. Juni Lange Nacht der Wissenschaften   Aufführung „Alternative Wahrheiten – Über Subversion und Dissidenz im Frühen Judentum“   Was wäre wenn … wir die anderen Stimmen im antiken Gespräch über religiöse Weltanschauung und damit verbundenem Zugehörigkeitsgefühl zu jüdischer Tradition vernehmen könnten, die in den überlieferten Texten zumeist übertönt oder mit Ablehnung und Polemik überzogen werden? In einer Versuchsanordnung werden wir sie ins Gespräch zurückbringen und für sich selbst sprechen lassen.   18:00 Uhr, Seminargebäude Dorotheestraße 24, 10117 Berlin   www.langenachtderwissenschaften.de
 
 
 
Erinnerung an Emil Ludwig Fackenheim (1916-2003) von Christoph Markschies   Es gibt Szenen im Leben, die vergisst man nie. Eine, die ich nie vergessen werde, spielt während meines Studiums in Jerusalem, vor fast vierzig Jahren. Ein Gastvortrag war angekündigt, in englischer Sprache. An den Inhalt erinnere ich mich nicht mehr. Nach dem Vortrag pflegte man noch in einer Kellerbar zusammenzusitzen und mit den Vortragenden über den Vortrag zu sprechen. Der Vortragende blieb in dem Fall, von dem ich erzählen möchte, lange. Sehr lange. Und als er schließlich kurz vor Mitternacht aufstand, sagte er im Aufstehen: „Ich hatte mir geschworen, nie wieder öffentlich Deutsch zu reden. Und nun habe ich mich einen ganzen Abend in dieser Sprache unterhalten“. Wenn ich mich richtig erinnere, ging der Referent ein wenig konsterniert und sehr nachdenklich davon.   Der nachdenklich davon gehende Mensch, der wider seine Vorsätze in die Sprache seiner Jugend zurückgefallen war, hieß Emil Ludwig Fackenheim. Geboren wurde er 1916 in Halle und starb 2003 in Jerusalem. Als er 1983 den Vortrag in Jerusalem hielt, an dessen Nachgeschichte ich mich so lebhaft erinnere, lebte er gerade wenige Monate in dieser so besonderen Stadt. Zwischen Halle und Jerusalem lag ein von den Schrecknissen des zwanzigsten Jahrhunderts tief gezeichnetes Leben, das Fackenheim allerdings nicht bitter gemacht hatte. Mitten während der nationalsozialistischen Diktatur schloss er 1935 seine Schulzeit ab und begann darauf zu studieren: Weil man damals jüdische Theologie nicht an einer Universität belegen konnte, immatrikulierte er sich gleichzeitig an der Universität seiner Heimatstadt für Klassische Philologie, Philosophie sowie Arabistik und an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums als Rabbinatsstudent. Seine Antrittspredigt hielt der junge Student am Feiertag Jom Kippur 1937 in der Synagoge des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Bis zuletzt benutzte er das Hebräisch-Wörterbuch eines christlichen Alttestamentlers aus Halle, das er sich für sein Studium gekauft hatte. Im Zusammenhang der Novemberpogrome 1938 wurde Fackenheim verhaftet und im KZ Sachsenhausen inhaftiert und floh nach seiner Ordination zum Rabbiner 1939 zuerst nach Schottland und dann nach Kanada. Alle Brücken in das Land der Mörder schienen abgebrochen. „Heimat, das gibt es nicht mehr. Ich kann das Wort nicht mehr benutzen. Die Nazis haben das Wort zerstört. Sie haben so viel zerstört“, hat Fackenheim einmal auf die Frage eines Journalisten nach seiner Heimat gesagt.   Aber es kam, wie ich selbst erleben durfte, anders. In einem bewegenden Vortrag vor deutschen Studierenden aus dem Jahr 1988 sprach Fackenheim von dem Abgrund, die durch diese Ereignisse und den Holocaust zwischen Deutschen und Juden, aber auch zwischen Christen und Juden aufgerissen wurde. Er hielt diesen Vortrag am 6. März, dem Tag, an dem sich sein älterer Bruder 1941 in Berlin das Leben nahm, um nicht in das Vernichtungslager Treblinka deportiert zu werden. „Ich bin also hier ganz bestimmt trotz meines Bruders“, beginnt Fackenheim seinen Vortrag, um dann fortzusetzen, dass er auch wegen seines Bruders hier sei und die Kluft überbrücken wolle im Gespräch mit jungen Menschen. Immer wieder mahnte er, die schlimmen antijüdischen und antisemitischen Tendenzen im angeblichen so goldenen Zeitalter deutscher Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts nicht zu vergessen. Ebenso eindringlich warnte er davor, tatenlos wieder erwachenden Antisemitismus hinzunehmen und Antizionismus zu tolerieren.   Und so hat Fackenheim, der nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig als Rabbiner in Reformgemeinden und als Professor für Philosophie an der Universität Toronto gearbeitet hat, seit seiner Übersiedlung immer wieder das Gespräch mit Deutschen, insbesondere mit Christenmenschen gesucht und dabei vor allem mit Jugendlichen. Ganz selbstverständlich verwendete er die deutsche Sprache seiner Jugend, aber erinnerte manchmal noch an seinen Schwur, das in der Öffentlichkeit niemals wieder zu tun und nannte die Gründe.   Da Fackenheim neben jüdischer Theologie auch Philosophie und Arabistik studiert hatte, beschäftigen sich seine Veröffentlichungen natürlich mit jüdischer und arabischer Philosophie vor allem des Mittelalters. Zunehmend studierte er aber auch klassische deutsche Philosophen wie Kant, Fichte, Schelling und Hegel, weil er als zeitgenössischer Philosoph am (wie er sagt) „ganz Anderen“ der biblischen Offenbarung festhalten wollte, die das, was Menschen über „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ glauben denken zu können, zum lebendigen Gott bringt. Aber seit dem Sechstagekrieg 1967, als nur wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust erneut dem jüdischen Volk mit Vernichtung gedroht wurde, beschäftigte Fackenheim mehr und mehr die Frage, wie nach Auschwitz verantwortlich im Judentum von Gott geredet werden konnte.   Eine reife Frucht dieser Überlegungen ist das Buch „Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart“, das Fackenheim 1986 in Jerusalem schrieb und das am Berliner Institut Kirche und Judentum (in einer vorzüglichen Übersetzung von Gudrun Holtz) ins Deutsche übersetzt und vor über zwanzig Jahren dort 1998 publiziert wurde. Es ist aus der Perspektive eines liberalen Juden geschrieben, der davon ausgeht, dass das jüdische Volk zunächst einmal durch die Entschlossenheit verbunden ist, „dass Israel nicht untergehen darf“. Das durch viele autobiographische Erinnerungen leicht zu lesende Buch besteht aus drei Teilen, die schlicht überschrieben sind: „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“. Das Buch beginnt 1938 in einer Gefängniszelle in Halle und mit der Frage der jüdischen Mitgefangenen an Fackenheim, was er als Rabbinatsstudent jetzt als jüdische Antwort auf diese Lage zu sagen habe – der Autor versteht sein Buch als Antwort nach vielen Jahren auf die Frage, was ein Jude in dieser Welt glauben kann.   Der Höhepunkt des Buches ist vielleicht das letzte Kapitel, „Gott im Zeitalter von Auschwitz“. Fackenheim betont die Unendlichkeit Gottes, erinnert daran, dass die klassischen jüdischen Texte nur „sozusagen“ von Gott reden, die Distanz zwischen ihm und unseren Worten über ihn wahren. Insofern bleiben viele Fragen der Menschen nach Gott in der schrecklichen Gegenwart dieser Welt und nach der Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts ohne Antwort. Und trotzdem schließt Fackenheim mit Worten einer Predigt, die ein chassidischer Rabbiner im Warschauer Ghetto gehalten hat und die durch Zufall erhalten geblieben ist. Rabbi Schapiro erinnerte am 14. März 1942 an die alte Geschichte, dass Gott in seiner inneren Kammer im Verborgenen weint und seine Freude nur in der äußeren Kammer diesen Schmerz transzendiert. Fackenheim fragt am Ende ganz vorsichtig, ob Rabbi Shapiro im Ghetto nicht versuchte, am Schmerz Gottes Anteil zu nehmen, „selbst auf die Gefahr hin, dass er dabei vernichtet würde“.